KREATIVITÄT  
    Das Verschwinden der Kreativität
 
 

Innovation als psychologisches Problem: Kinder verlieren ihre Wissbegier und ihre Begeisterungsfähigkeit in der Schule, Jugendliche müssen sie erst mühsam wieder lernen
Von Rolf Oerter und Heinz Mandl Q: Seite 22/Süddeutsche Zeitung Nr. 21 WIRTSCHAFT 26.01.2006

  "Kreativität entwickelt sich immer aus dem Zusammenspiel von Persönlichkeit und Umwelt; die kreativen Kräfte der Persönlichkeit brauchen eine stimulierende Umwelt, die zugleich hinreichend Freiheitsgrade gewährt. Alle Kinder sind kreativ und zeigen besonders im Spiel immer wieder von neuem ganz er- staunliche Einfälle. Dieser Reichtum erfährt schon bei Schuleintritt eine empfindliche Beschränkung aufgrund von „Sachzwängen“. Gegenwärtig haben wir die merkwürdige Situation, dass besondere kreative Leistungen in der Kindheit und Jugend eher am Rande des schulischen Geschehens oder außerhalb der Schule zustande kommen, etwa beim Theaterspiel oder bei „Jugend forscht“. Ein wichtiger Grund für das Verschwinden der Kreativität hängt mit dem Rückgang der natürlichen Neugier und Begeisterungsfähigkeit von Kindern zusammen. Bekanntlich ist jedes Kind von Natur aus neugierig und bestürmt seine Umgebung mit Fragen. Ist dieser Rückgang an Wissbegier, der bei vielen Kindern schon frühzeitig auftaucht, ein naturwissenschaftliches Naturgesetz? Es gibt insgesamt gesehen keinen Befund, der Kreativität auf ein bestimmtes Lebensalter einschränkt. Vielmehr dürfte die zukünftige Aufgabe lebenslanger Bildung und Entwicklung darin bestehen, Kreativität und Flexibilität bis ins Alter aufrechtzuerhalten. Im Jugendalter gehen wir gegenwärtig außerordentlich nachlässig mit einein kreativen Potenzial um, das noch viel zu wenig genutzt wird. Würde es gelingen, nicht nur einzelne Jugendliche, sondern eine Mehrheit von ihnen so wissbegierig zu machen und so zu begeistern, wie wir dies bei Kindern im Vorschul- und oft auch noch im Grundschulalter vorfinden, so hätten wir einen doppelten Gewinn erzielt: Wichtige innovative Beiträge von einer neuen Altersgruppe und Selbstbewusstsein und Partizipation dieser Gruppe, die gegenwärtig oft allzu sehr im Abseits oder auf Wartestellung steht. Für Innovation und ihre Durchsetzung in Unternehmen und Organisationen gilt prinzipiell das Gleiche: Neugier für Neues und Anreiz für Neues. In manchen Betrieben gelingt das vorzüglich. Porsche etwa regt die Belegschaft regelrecht zu innovativen Beiträgen an und bietet seinen Mitarbeitern Prämien für umsetzbare Vorschläge - fragt sich, warum Innovation dann so häufig auf Barrieren stößt?
Eine dieser psychologischen Barrieren ist die Tendenz zum Beharren, der Widerstand gegen Veränderung. Dazu fügt sich passend ein zweites Kriterium, die Furcht vor dem Unbekannten und die Scheu, Risiken einzugehen. Neues und nicht Vertrautes
die man nicht einschätzen kann. Hier gilt es umzudenken. Psychologische
Untersuchungen
  zeigen, dass wir gerne in einer Illusion von Gewissheit leben. Wir tendieren dazu, das bisher Bewährte als absolut sicher und das Neue demgegenüber als unsicher, gefährlich einzuschätzen. In den meisten Fällen gibt es keine absolute Sicherheit, sondern nur Wahrscheinlichkeiten. Daher ist es not- wendig, Unternehmer und Belegschaft, Politiker und Bürger davon zu überzeugen, dass sie sich in falscher Sicherheit wiegen und sich gegenwärtig großen Risiken aussetzen, wenn sie sich gegen Innovationen sträuben. Wir müssen lernen, Entscheidungen rational, aber auch kreativ angesichts von Unsicherheiten zu fällen, die wir niemals ganz in den Griff bekommen werden. Die Psychologie legt eine Fülle von Untersuchungen vor, wie sich Menschen in solchen Entscheidungssituationen verhalten und wie man dieses Verhalten verbessern kann. Besonders schwer fallen Entscheidungen, wenn es um langfristige Innovation geht. So weiß jeder Mensch, dass Wasserstoff eines der wichtigsten Energieträger der Zukunft sein wird und dass andererseits zu seiner Gewinnung enorme Energien erforderlich sind, die letztlich nur aus der unerschöpflichen Solarenergie gespeist werden könnten. Die technische Umsetzung solcher Projekte erfordert Generationen, würde aber sicherlich Nachhaltigkeit versprechen. Warum packen wir dieses Problem also nicht mit dem nötigen Impetus an? Die Antwort liegt auf der Hand. Menschen sind es leider nur in eng umgrenzten Bereichen gewohnt, über ihr Leben hinaus an die Zukunft zu denken und für sie zu planen. Ein zweiter Grund für das Zögern bei umfassenden globalen Innovationen liegt in der schon genannten Fehleinschätzung von Risiken, die in einer Zukunft liegen, die einen selbst nicht mehr betreffen. Im Sinne der kognitiven Dissonanz, einem gut untersuchten psychischen Mechanismus, sucht man nach Argumenten, die das Zukunftsrisiko verringern und unterdrückt Argumente, die das Risiko hoch erscheinen lassen. Die mit Innovation und Veränderung zusammenhängenden Probleme sind gewaltig, und es bedarf einer neuen Kultur, die Innovation und Kreativität aktiv unterstützt, ihre Umsetzung fördert, aber zugleich kritisch gegenüber einer blinden Zukunftsgläubigkeit ist. Zur Verwirklichung dieser neuen Kultur gibt es ein breites psychologisches Wissen, das bis jetzt noch kaum genutzt wird. Die Professoren Rolf Oerter und Heinz Mandl arbeiten am Institut für Pädagogische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München."
11.09.2015
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