6 Thesen zur gegenwärtigen Situation der KunstPädagogik
Prof. Dr. Reimar Stielow, HBK Braunschweig

Die Thesen wurden für den Österreichischen Kultur-Service (www.oeks.at) formuliert und in der Zeitschrift öks transfer 4/2001 veröffentlicht, danach in den BDK-Mitteilungen 2/2002.

Ich schreibe KunstPädagogik mit großem P, weil mir wichtig ist, dass das Pädagogische, mithin für junge Menschen mit Bildungszielen Konzipierte, im Unternehmen KunstPädagogik nicht vergessen wird. Es ist unverzichtbar.

1.
Der/die durchschnittliche mitteleuropäische KunstPädagogIn hat es, nach meinen Beobachtungen, bis heute nicht erreicht Dürers: "Zeichner des liegenden Weibes" ihren SchülerInnen von 14 bis 18 Jahren angemessen einsichtig zu machen. Angemessen hieße: Dem/der SchülerIn verständlich zu machen, dass das liegende Weib, der Zeichner, der Raum, die Dinge, die Landschaft auf dem Bild nicht natürliche Abbilder sind. Sondern das Bild ein äußerst abstraktes selbstreflexives komplexes Konstrukt ist. Bis heute hat die Mehrzahl der SchülerInnen grundsätzlich nicht eingesehen, wie Bilder entstehen. Seit 500 Jahren haben die großen europäischen Künstler wie Velasquez u. a. den künstlerischen Prozess in seiner Komplexität im Bild selbstreflexiv anschaulich gemacht. Durchschnittliche mitteleuropäische Kunstpädagogik klebt beharrlich auf einem unreflektiert naiven Abbildverständnis plus Bedeutungsbetonung und leistet damit allen populistischen Vorurteilen über Kunst Vorschub.

2. Ziel von KunstPädagoik im 21. Jahrhundert wäre es jedoch, dem/der SchülerIn in Theorie und Praxis, in praktischer Theorie, in Produktion und Reflexion, einsichtig zu machen: wie er/sie selbst sich seine/ihre Bilder konstruiert. Im Pluralismus der im 20. Jahrhundert eröffneten Möglichkeiten, in einem Mix der Konzepte von sachlich, expressiv, surreal, konzeptionell, formal, dekorativ, medial ...

3. Da Bilder immer aus Bildern entstehen und nicht Abbilder von Realität sind, selbst wenn sie sich auf die Realität beziehen, müssen SchülerInnen in die gegenwärtigen Bildvorstellungen kennenzulernen: in den Museen. Das Erbe darf nicht verschleudert werden, sondern muss immer wieder aufgearbeitet werden. KunstPädagogik ist ohne MuseumsPädagogik nicht zu denken.

4. Auch wir Mitteleuropäer leben in einer vernetzten Welt, ökologisch, kulturell und ökonomisch. Wir können uns nicht abschotten. SchülerInnen im 21. Jahrhundert ist bewusst zu machen, dass die Kunst seit dem 20. Jahrhundert interkulturell ist. Van Gogh's Kunst ist ohne japanischen Holzschnitt nicht möglich. Gauguins Kunst ist ohne die Kultur der Südsee nicht möglich. Picassos Kunst ist ohne afrikanische Masken nicht möglich. Beuys Kunst ist ohne sibirischen Schamanismus nicht möglich.

5. KunstPädagogik ist ein künstlerisch-wissenschaftliches Fach, damit ist es zukunftsweisend. Der dialektische Widerspruch zwischen künstlerischer Kreativität und Wissenschaft ist in der Ausbildung zukünftiger LehrerInnen in aller Brisanz zu thematisieren. Das heißt, die gegenwärtigen pädagogischen Machthaber hätten ihre alltägliche Angst demonstrativ zu ver-rücken und ver-rückt zu sein. Beuys: "Ich bin auf der Suche nach dem Dümmsten." Sokrates: "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Zen: "Sieh mit Deinem rechten Auge Dein linkes Auge."

6. Exemplarische Methoden!
a) In einer Zeit des permanenten Zeitdrucks, muss der/die SchülerIn seine künstlerische Eigenzeit finden dürfen: Langsamkeit und Stille.
b) Der Horizont hat 360º, polyperspektivische Drehungen um sich selbst, die zur Meditation führen können, müssen geübt werden.
c) Wir sind ein vernetztes Bewusstsein-Unbewusstsein von Körper - Leib - allen Sinnen - SinnVorstellungen - MenschenBildern - WeltBildern, wechselnde Vernetzungen sind zu praktizieren. Jedes Bewusstsein kann sich nur selbst organisieren.
d) Ohne Diskussion, Gespräch, Vortrag, Aufweisen von Zusammenhängen kein Verstehen.
e) Jedes lernende Bewusstsein bedarf sanfter, faszinierter, schockierter, begeisterter Verwirrung und Irritation, um sich neu organisieren zu können.
f) ohne Werturteile keine Humanität.



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