ZENTRALABITUR GEGENREDE
Veröffentlicht in den BDK Mitteilungen 1/04
BDK e.V. Fachverband für Kunstpädagogik Landesverband Niedersachsen
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Die Entscheidung für das zentrale Abitur ist gefallen, das „Zentrale-Abi-Komitee“ ist bestimmt und schon bald werden standardisierte Prüfungsaufgaben im Voraus auf das Unterrichtsge­schehen Einfluss nehmen: Mittelmäßigkeit ist dann Programm!

Das wird so sein, weil die Zentralisierung an die Wurzeln unseres Faches Kunst geht und noch weit darüber hinaus! Denn nach demokratischem Verständnis ist die administrative Zentralisie­rung an sich schon unzeitgemäß und fragwürdig. Sie unterbindet von vornherein Vielfalt in al­len Prüfungsfächern und gleichzeitig unterschiedliche Schulprofile. Das steht auch im krassen Gegensatz zu Erkenntnissen der Wissenschaften, die sich mit Erziehung, Lernen, Denken und Wahrnehmung beschäftigen, dort wird selbstverständlich pluralistisch argumentiert, während man differenziert auf den Menschen als individuelles Wesen eingeht.

Mit der antiquierten Zentralverwaltung verhilft man also der Bildung überhaupt nicht zu größe­rer Schwungkraft. Im Gegenteil, unter reaktionären Bedingungen kann sich das kulturelle Po­tential unserer Gesellschaft noch weniger entfalten als bisher.

Kunstunterricht dagegen konzentriert sich sachgemäß auf die künstlerische Bildung der Ler­nenden. Das Künstlerische ist grundsätzlich individuell bestimmt und wird individuell erfahren und reflektiert, spätestens seit Beginn der Neuzeit. Diese unvergleichliche Orientierungsform des einzelnen Menschen ist ein Labor für Visionen und kreative Neuerungen in unserer Gesell­schaft. Jetzt wird diese Möglichkeit verstellt.

Ich äußere mich aus Verantwortung für meine kunstpädagogischen Arbeit, in der ich mit den Schülerinnen und Schülern Zugänge zum elementar Künstlerischen suche, das eben weder durch saubere Handarbeit noch durch kognitive Reproduktion allein wirksam wird. Im Fach Kunst ist Wahrnehmen, Erfinden, Anstoßen und Bedenken zu entdecken und innovative Gestal­tungskräfte sind zu fördern. Zudem findet die Kunstarbeit auf eine bemerkenswert individuelle Weise statt. Da einerseits persönliche Bedingtheiten eines jeden Menschen und andererseits die Notwendigkeit, stereotype Vorstellungen und überkommene Muster hinter sich lassen zu müssen, gestalterische Rezepte ausschließen.

Künstlerische Praxis mit ihren Sinnreizen und die persönliche Anteilnahme haben außerdem et­was mit Bewusstwerdung, mit der Ausbildung unseres Selbst zu tun. Das Spiel der Vielfalt, die Gestaltung der Dinge aus persönlicher Betroffenheit, Intuition und Imaginationskraft bedienen unsere Individualität und unsere Orientierung innerhalb der sich ständig umgestaltenden Ge­sellschaft. Hier manifestiert sich seit jeher Kunst, die neben Wissenschaft und Religion ein Grundpfeiler der Sinnsuche des Menschen darstellt. Und dann sind da noch die sich auftürmen­den Probleme unserer Welt, die uns jede Menge kreativer Einfälle abverlangen, die Köpfen mit jungem offenen Geist leichter entspringen, als den Köpfen mit zementierten Vorstellungen.

In Bezug auf die schulische Abschlussprüfung spielen aber inhaltliche Schwer-punkte, die sich aus dem Kompetenzprofil des Lehrers, der fachspezifischen Ausstattung der Schule und dem lokalen Angebot außerschulischer Lernorte ergeben, keine Rolle. Die vom Lehrerindividuum er­reichte Vertiefung der Kunstarbeit ist grundsätzlich anders gelagert als die programmatischen Setzungen der Auserwählten im Kultusministerium.

Dennoch wird für alle Abituranwärter im ganzen Land, die von den unterschiedlichsten Lehrer­persönlichkeiten mit ihren individuellen Kunstauffassungen im Lernen an und mit unterschied­lichster Kunst unterwiesen worden sind, ein und dieselbe Prüfungsaufgabe gelten!

Diesbezüglich mache man sich klar: selbst wenn sich die kompetentesten Fachberater bereit erklärten, die zentralistische Formulierungsarbeit Jahr für Jahr bis zu ihrer Pensionierung zu übernehmen, werden die Prüfungsaufgaben stets Kompromisse von unterschiedlichen Köchen sein. Zudem ist bekannt, dass im Unterricht die alten Abituraufgaben umgehend geübt werden, um sich für die neuen Prüfungen zu konditionieren. Damit zirkulieren inzüchtig diejenigen Kunstauffassungen, die in der fachlichen Dienstzentrale ausgewählt worden sind, während an­dere naturgemäß wegfallen. Entsprechende Prüfungen spielen sich analytisch in kunstgeschichtlichen Gefilden ab. Sie fordern Sachwissen und Vergleichsurteile. Das ist für eine Pauk-Schule nicht schlecht. Kreative Potentiale können jedoch nicht standardisiert geprüft wer­den, denn Kreativität bedeutet neben oder quer zu den gesetzten Leitlinien zu denken und Themen in neuen Formen zur Anschauung zu bringen. Obendrein liefert ein künstlerisches Werk viele Ansätze, aber keine logischen Antworten auf Fragen nach dem, was zu dieser Kunstarbeit motiviert hatte.

Kunstarbeit ist als ganzheitliche Weltaneignung, also als ein effektiveres Lernen mit allen Sin­nen, mit zentral bestimmten Zielvorgaben kaum vereinbar.

Die passende Prüfungshürde lässt sich deshalb nur vor Ort mit dem Einblick in die konkreten Erfahrungsfelder der Schüler aufbauen, nicht aber mit den Rastern einer Aufgabenformulie­rung, die gleichzeitig und landesweit für alle Kunstkurse stimmen muss. - Wenn allerdings in den zentralen Prüfungsaufgaben nicht das erfasst wird, was zum facetten­reichen und stets individuellen fachlichen Kern des Kunstunterrichts gehört, ist das Bemühen des Lehrers gerade darum dysfunktional.

Gleichzeitig werden fächerübergreifende pädagogische Werte, wie selbststrukturiertes Lernen, Projektarbeit, prozesshafter Unterricht u. a., die mit der fortschrittlichen „Lernenden Schule“ verknüpft sind, vom zentralistisch konstruierten Schulabschluss ausgebremst. Hier verliert die pädagogische Bewegungsfreiheit für einen verantwortungsvollen Unterricht ein weiteres Stück, obwohl das Schulgesetz etwas anderes vorgibt: „...Die Schule soll Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern den Erfahrungsraum und die Gestaltungsfreiheit bieten, die zur Er­füllung des Bildungsauftrags erforderlich sind.“ (NSchG §2 (2)) - Über Ergebnisse wie die des aktuellen OECD-Vergleichs wundern sich professionelle Lehrkräfte schon längst nicht mehr. Fa­zit: Kunst ist der hervorragende Ausbildungsplatz für Innovation, Kreativität, Wahrnehmung, Gestaltgebung, Selbstreflexion, für das „Sich selbst und sich der Welt bewusst werden“. Dieser Raum wird demnächst gravierend eingeschränkt, damit der Deckel mit Namen „Zentrales Ab­itur“ auch passt, unter den sich jeder begeben muss, der das Zertifikat „Bestanden“ erhalten möchte. Das macht verwaltungstechnisch Sinn, aber keinen qualitativen. Geschaffen werden dirigierbare Möglichkeiten, aber keine fachliche Tiefe und vor allem keine selbstverantwortliche Bildung.

Als Mensch wie als Kunstpädagoge muss ich Kunst meinen, wenn ich Kunst sage, und ich muss junge Menschen zur Mündigkeit führen, wenn ich ankündige, wir lernen jetzt innerhalb des Fachgebiets Kunst, das selbstverständlich auch die Kunst unserer Zeit beinhaltet!
Deshalb bin ich gegen das Zentralabitur.

Rainer Randig (Fassung vom 12.12.2003)

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