DREI-SEKUNDEN-TAKT  
 
  Zur Aufnahme bildlicher und schriftlicher Informationen
und zur Entstehung von Gedächtnisleistung
Der Takt aller Dichtung
Hirnforscher Ernst Pöppel sprach in Wolfenbüttel
Von Antonia Uthe - Braunschweiger Zeitung, 27. März 2003
       

Ein Krieg ist erst hundert Jahre später zu Ende. Solange gibt es immer noch Menschen, die leben und das Geschehene im Gedächtnis behalten. Dieses Erinnerungswissen, sagte in Wolfenbüttel Professor Ernst Pöppel, Neuropsychologe aus München, prägt sich durch Bilder ein. Wenn ein Gewitter herannaht, kann das Donnergrollen Herzklopfen verursachen, weil es an Bombennächte erinnert. Das Wissen darum schützt nicht vor dem Erschrecken. Wo die Grenzen des Schreckens einmal überschritten wurden, wird es nie mehr vergessen. „Bildwissen“, das durch Erinnerungsbilder verfügbar wird, liegt in der eigenen Vergangenheit begründet. Die Geschichten der Bilder bestimmen unser Selbst.

Genese des Wissens

Ernst Pöppel legte in seinem Vortrag „Die zwei Formen des Lesens“, in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel dem Lesen eine „Genese des Wissens“ zu Grunde, die sich auf drei Grundprinzipien aufbaut:

• Das „Bildwissen“, das Information direkt aufnimmt und Orte der Erinnerung begründet.

• Das „explizite Wissen“ wird lesend erworben und gemeinhin mit Bildung in Verbindung gebracht. Ich-fern und übertragbar strebt es nach Orientierung und rationaler Problemlösung.

• Für Gerechtigkeit oder Wahrheit gibt es keine konkrete Definition, aber wir wissen, was wir meinen. Was als „implizites Wissen“ in uns angelegt ist, bestimmt auch Bewegungsabläufe, ohne dass wir uns
dessen bewusst sind, und speist Wahrehmung und Emotionen. Sein Reichtum an Funktionszuständen garantiert Individualität.

Diese drei Wissenszustände sind unserer Natur von der Welterfahrung und dem Gehirn vorgegeben und kulturübergreifend. Sie sind an unterschiedlichen Stellen des Gehirns verortet, vereinen sich aber zu einem Wirkungsgefüge.

Drei Sekunden „Faust“

Das Gehirn stellt dem Bewusstsein Informationen für drei Sekunden als Gegenwartsempfindung bereit. Dieser Drei-Sekunden-Takt gilt für alle Sprachen dieser Welt. Die Zeile eines harmonisch empfundenen Gedichtes dauert drei Sekunden, ein halber Hexameter, oder die Verse in Goethes, „Faust“. Wird bei einem Text der Satzspiegel im Drei-Sekunden-Takt nicht eingehalten, ist das Lesen wesentlich anstrengender. Auch das soziale Leben verwirklicht sich in diesem Rhythmus.

„Die zwei Formen des Lesens“ beziehen sich auf die bildliche und analytische Erfassung eines Textes. Die piktografische Schrift der Chinesen begünstigt die bildliche Form. Die rechte Gehirnhälfte wird stärker angesprochen. Unsere Buchstabenschrift prägt die linke Hälfte. Die unterschiedliche Verschriftlichung hat also Konsequenzen für Lesen und Wissensaufnahme. Die bildliche Erfassung steht für eine unmittelbare, offene Wahrnehmung der Welt, während das Erlesene erst in die innere Wissenswelt integriert werden muss. Beide Formen sind wichtig.

Weil Gedichte bildaufbauendes Wissen vermitteln können, entsteht Unmittelbarkeit auch durch Simulation beim Zuhören. Sie seien, so Pöppel, wichtig für die Förderung bildlichen Lernens. Deshalb und weil Empfänglichkeit für Informationen an ästhetisches Empfinden gebunden ist, seien die Künste von fundamentaler gesellschaftlicher Bedeutung.

   
Entsprechende Ausführungen von Ernst Pöppel lassen sich in seinem Beitrag DREI WELTEN DES WISSENS - KOORDINATEN EINER WISSENSWELT nachlesen. Q: Christa Maar, Hans Ulrich Obrist, Ernst Pöppel (Hg.) WELTWISSEN-WISSENSWELT Das globale Netz von Text und Bild in Zusammenarbeit mit der »Akademie zum Dritten Jahrtausend« und dem DuMont Buchverlag. Köln 2000
 
26.02.2024
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