SHO START
Chinesisch-japanische Schreibkunst
Shodo, japanisch: Weg des Schreibens
Welche Rolle kann die traditionelle asiatische Kunstform überhaupt für die europäische Arbeit mit Kunst spielen? Diese Frage möchte ich aus meiner individuellen Sicht beantworten: Das Faszinierende liegt in der klaren Andersartigkeit der Bildproduktion. Die Verwirklichung konzentriert sich auf wenige Augenblicke und garantiert den Spielraum für unbewusste Kräfte. Zwar ist jeweils eine Grundform vordefiniert, die es erst einmal zu erreichen gilt, darüber hinaus findet die Form irgendwann später ihren individuellen Ausdruck. Allem Anschein nach gerade dann, wenn es gelingt, das eigene Wollen angemessen zu zügeln. Neben dem intensiven Training läuft die Arbeit schließlich darauf hinaus, eine Haltung zu gewinnen, die unverkrampft und aufmerksam genug ist, im Rahmen dieser Disziplin das zuzulassen, was ich bewusst gar nicht herstellen kann. Gelingt die Übung, transformiert sich eine Pinselspur zu einer überraschenden Gestalt. Eine andere Bildäußerung ist wohl kaum geeignet, um die Schöpfung einer Form so absolut auf den Punkt bringen zu können.
Denkt man an ein Gemälde, wird eine Komposition entwickelt, ein Teil betont, ein anderes überarbeitet oder verwandelt. Das Bildwerk wird Stück für Stück aufgebaut, sei es geplant oder "findend". Der Anspruch an den Bildautor ist ein anderer: da ist eine Vorstellung,
da ist das Ringen um das In-die-Wirklichkeit-bringen, da ist die Neuheit der Sicht. Auch dieser Künstler hat eine Einstellung zu seinem Tun, eine Haltung, doch die Schwerpunkte scheinen auf andere Aspekte gelegt zu sein als beim Sho. Hier wird jedes weniger gelungene Werk Altpapier oder wieder eingestampft. Der einzelne Versuch wird zwar als Ganzes erkannt, aber auch relativiert. Vielleicht ist unter 40 gleichen Zeichen schon ein Blatt, das aufmerken lässt. - Oftmals jedoch nicht, und damit verlagert sich die Anstrengung zurück auf den Übenden. Ausdauer, Geduld und Konzentration sind Früchte der Selbstüberwindung, die ein Bild mit Ausdruck geschehen lassen, wenn die Zeit dafür reif ist.
Unabhängig vom besonderen Bildcharakter ist die Form des Lernens interessant. Anfangs ist Nachahmung gefragt, die Vorschrift des Schreibmeisters (oder des Musterbuches) muss imitiert werden, bis die Unterschiede geringer geworden sind. Gleichzeitig entwickeln sich allmählich die Eigenheiten des Schreibschülers - im Idealfall "absichtslos". Dieses Lernen kommt ohne viel Worte aus, weil es über das Tun läuft und mit allen Sinnen erfahren wird und sich mit vielen Empfindungen verknüpft. Diese ursprüngliche Lernform kann unter Umständen vorteilhaft sein, wenn Dinge erfahren werden wollen, die nur unvollständig rationalisierbar sind.