Mathe-Kunst-Kurs | 13. Jahrgang | 2000/2001 | Martens, Sechtig & Randig
ZURÜCK ZUM INHALT | KURSPROTOKOLL
Material für die "METAEBENE" im MaKu-Kurs 2000/2001 am 06.02.01
TEXTE -1-


Birgers Einsteintext

»Ein vielgestaltiger Bau ist er, der Tempel der Wissenschaft. Gar verschieden sind die darin wan-delnden Menschen und die seelischen Kräfte, welche sie dem Tempel zugeführt haben.

Gar mancher befasst sich mit der Wissenschaft im freudigen Gefühl seiner überlegenen Geisteskraft; ihm ist die Wissenschaft der ihm gemäße Sport, der kraftvolles Erleben und Befriedigung des Ehrgeizes bringen soll; gar viele sind auch im Tempel zu finden, die nur um utilistischer Ziele willen hier ihr Opfer an Gehirnschmalz darbringen. Käme nun ein Engel Gottes und vertriebe alle die Menschen aus dem Tempel, die zu diesen beiden Kategorien gehören, so würde er bedenklich geleert, aber es blieben doch noch Männer aus der Jetzt- und Vorzeit im Tempel drinnen... Gäbe es nur Menschen von der soeben vertriebenen Sorte, so hätte der Tempel nicht entstehen können, so wenig als ein Wald wachsen kann, der nur aus Schlingpflanzen besteht. Wenden wir aber unsere Blicke wieder denen zu, die vor dem Engel Gnade gefunden haben! Etwas sonderbare, verschlossene, einsame Kerle sind es zumeist, die einander trotz dieser Gemeinsamkeiten eigentlich weniger ähnlich sind als die aus der Schar Vertriebenen.

Was hat sie in den Tempel geführt? Die Antwort. . . kann gewiss nicht einheitlich ausfallen . . . eines der stärksten Motive, Flucht aus dem Alltagsleben mit seiner schmerzlichen Rauheit und trostlosen Öde, fort aus den Fesseln der ewig wechselnden eigenen Wünsche. Es treibt den feiner Besaiteten aus dem persönlichen Dasein heraus in die Hochgebirgslandschaft, wo der weite Blick durch die stille, reine Luft gleitet und sich ruhigen Linien anschmiegt, die für die Ewigkeit geschaffen scheinen.«

»Der Gefühlszustand, der zu solchen Leistungen befähigt, ist dem des Religiösen oder Verliebten ähnlich; das tägliche Streben entspringt keinem Vorsatz oder Programm, sondern einem unmittelbaren Bedürfnis.«

»Der Mensch sucht irgendwie adäquaterweise ein vereinfachtes und übersichtliches Bild der Welt zu gestalten und so die Welt des Erlebten zu überwinden, indem er sie bis zu einem gewissen Grad durch dies Bild zu ersetzen strebt... In dieses Bild und seine Gestaltung verlegt er den Schwerpunkt seines Gefühlslebens, um so Ruhe und Festigkeit zu suchen, die er im allzu engen Kreis des wirbelnden und persönlichen Erlebens nicht finden kann .. . Höchste Aufgabe ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition ...«
Albert Einstein 1918 (zitiert aus «Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten»)

 

Der Drang zum Bildermachen/ Weltbild und Realität/Kunst und Wissenschaft waren Schwerpunkte der Diskussion, sowie die Konstruktion von Bild, Gestalt, Struktur . . .

Carl Friedrich von Weizsäcker, in ZEIT UND WISSEN [Seite 449]

1. Logik ist die Mathematik von Wahrheit und Falschheit.
2. Mathematik ist die Theorie der Strukturen.
3. Theorie ist die Kunst des Wahren und Falschen.
4. Kunst ist die Wahrnehmung von Gestalten durch die Schaffung von Gestalten.
Um kohärent zu sein, müssten die Thesen noch ergänzt werden durch:
5. Struktur ist die auf Wahrheit und Falschheit beurteilbare Gestalt.

Diese Thesen habe ich seinerzeit als »bloße Gleichnisreden« spontan geschrieben, in der Hoffnung auf spätere Erklärung in einer ausgeführten Philosophie. Dazu sei hier zunächst der Aufbau der Thesen analysiert und soweit erläutert, als dies vor erst, im bloß mathematischen Rahmen, möglich ist.

Der Aufbau: Die Logik ist eine Mathematik, die Mathematik eine Theorie, die Theorie eine Kunst, die Kunst eine Wahrnehmung. Was nehmen sie wahr? Die Kunst nimmt Gestalten wahr, indem sie Gestalten schafft. Hier bedeutet »Gestalt« an beiden Stellen offenbar nicht dasselbe, aber etwas Zusammengehöriges. Am Ende der »Assoziationen zum Ort der Kunst« (I 9.3) sage ich von der Kunst: »Vielleicht darf man sagen: Sie ist die Stilisierung der Gestalt auf Gestalt.« Danach, im Abschnitt

I 9.4.3, S. 439, zitiere ich meinen Onkel (Fritz v. Graevenitz), der ein Künstler war:
»Diese Landschaft ist ein Geschenk von Corot.«
Ein Landschaftstypus wird uns zum Bewusstsein gebracht, indem ein Bild davon gemalt wird. Hier ist bereits zweifache Abbildung: Corots Bild stellt eine Landschaft dar, die Corot gesehen hat; die von Graevenitz gesehene Landschaft aber ist ein anderer Fall desselben Typus.

Kehren wir in die Mathematik zurück! Wenn Brouwer (vgl. I 5.1, S. 111) seinen Text beginnt mit der Zeile 1,2,3,4,5,6,7..., so schreibt er Zeichen. Diese, so haben wir gelernt, bedeuten natürliche Zahlen. Jede Menge von genau 3 Gegenständen ist ein Beispiel einer Menge mit der Kardinalzahl 3, also ein Element der Menge, die im logizistischen Aufbau als die »Zahl 3« bezeichnet würde. Diese ist eine Struktur im Sinne der oben zitierten mengentheoretischen Definition von »Struktur«. Mathematik als Theorie der Strukturen ist die Kunst, spezielle Strukturen herzustellen, welche Beispiele sind, an denen man die jeweilige allgemeine Struktur erkennen kann. Die Struktur »Zahl 3« ist die Menge, deren Elemente diese Struktur haben. Ein Beispiel des Verhältnisses zwischen zwei Russellschen Typen.

Mit diesen Erläuterungen gehen wir die Thesen, in umgekehrter Reihenfolge, noch einmal durch. Es ist Kunst, die Gestalt »Zahl 3« wahrzunehmen, indem wir eine Menge mit der Kardinalzahl 3 schaffen. Frege tat dies, indem er der Reihe nach definierte: die Nullmenge als Menge aller selbstwidersprechenden wahren Aussagen, die Menge 1 als die Menge der bisher definierten Mengen, die Menge 2 als die Menge der bis dahin definierten Mengen: {0, 1 }, die Menge 3 ebenso als {0, 1, 2}. Diese Kunst ist Theorie, denn man kann entscheiden, ob die Aussage, eine Menge z.B. von drei Zeichen oder drei Äpfeln sei isomorph der Menge 3, wahr oder falsch ist. Deshalb ist die Menge 3 gemäß These 5 nicht nur eine Gestalt, sondern eine Struktur. Mathematik ist die Kunst, Strukturen wahrzunehmen durch Schaffung von Beispielen, welche die betreffende Struktur haben. Logik ist die Mathematik, welche die speziellen Strukturen studiert, die aus Aussagen gebildet sind, welche wahr oder falsch sein können.

Wahrnehmung von Gestalt durch Schaffung von Gestalt nimmt also »die Gestalt«, hier die Zahl 3, wahr, indem sie »eine Gestalt«, hier eine Menge von drei Elementen, schafft und als Beispiel »der Gestalt« Zahl 3 erkennt. Dies ist, wie leicht zu erkennen, ein mathematisches Beispiel des platonischen Eidos-Begriffs. Man verzeihe die Pedanterie der obigen Darlegung; wir werden des weiteren die Genauigkeit dieser Unterscheidungen brauchen.

[nachträglich eingefügtes Bild:
Jean Baptiste Camille Corot, 1796-1875,
Die Brücke bei Narni, 1827
]
oben