Wuchernde Amöben
Friedemann von Stockhausens
Werke in Wolfenbüttel
Von
Marianne Winter
Friedemann
von Stockhausens Werk ist ungewöhnlich. Es spannt den Bogen von freier,
formaler Entwicklung während des Entstehungsprozesses, dem man die
Freude am
Zeichnen, die Experimentierlust am Material, dessen Ausdrucksmöglichkeiten
und Überraschungen ansieht, bis zu ethnologischen und kunsthistorischen
Wurzeln.
Sie nehmen in den Zeichnungen Gestalt an, sind erkennbar in Mutmaßungen
über peruanische Gottheiten, archaische Idole, kryptische Geschöpfe
freier Erfindung. Alles ist im Wachsen und Werden begriffen, noch offen
für Verwandlungen.
Nach intensiver Beschäftigung mit Malerei wandte sich Stockhausen,
derzeit HBK-Professor, zunehmend grafischer Gestaltung zu. Im Wolfenbütteler
Kunstverein werden neben wenigen Acrylbildern großformatige Papierarbeiten
vorgestellt, darauf Kohle-Tusche- und Filzstiftzeichnungen, mit zarter
Farbigkeit angereichert. |
Lineare Zellstrukturen sind Stockhausens Basis, aus der sich biologische
Formkomplexe entfalten. Zellkerne wuchern zu Mehrzellern, bilden Amöbenkolonien
oder Wirbelsäulengestalten, embryonale Köpfe, Rüssel,
Stacheln.
Stockhausens
Körperwelten kommen genau so gut aus frühen Kulturen wie aus
gegenwärtigen Transformerphantasien. Sie sind gleichermaßen
Bildäußerungen einer vor-
sprachlichen Ära und Kunstmenschen eines Transplantierungswahns.
Gelegentlich in Symmetrie das Schöpfungsideal nachempfindend, dann
wieder lustvoll über die Papierfläche wuchernd, staunend über
die eigene Zeichensetzung, die sich wiederholen und verdichten lässt,
dem Willen des Künstlers folgt und ihn mit unbekannten Resultaten
überrascht. Um diese geht es. Sie stehen auf der Fläche wie
das Anschauungsmaterial einer Naturkunde. Mit runden Glasaugen erzwingen
sie den Blickkontakt zum Betrachter, eröffnen den Dialog zum Thema
Schöpfung, Gestaltfindung und Manipulation, das mit assoziativen
Bildern aus dem Vorrat des Besuchers ergänzt werden kann.
Q: Braunschweiger Zeitung 29.November 2003
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