Das MU-Rätsel
Formale Systeme
EINER DER Zentralbegriffe in diesem Buch ist der des
formalen Systems. Die Art von formalen Systemen, die ich verwende, hat
der amerikanische Logiker Emil Post in den Zwanzigerjahren er-funden.
Sie wird oft als "Postsches Produktionssystem" bezeichnet.
Dieses Kapitel führt dem Leser ein formales System vor, und darüber
hinaus hoffe ich, dass er dieses formale System zumindest ein bisschen
zu erforschen wünscht; um seine Neugier zu reizen, habe ich ein
kleines Rätsel ent-worfen.
Es lautet: "Können Sie MU erzeugen?" Zunächst
werde ich Ihnen eine Kette vor-
legen, d. h. eine Kette von Zeichen*.
Damit Sie nicht gleich ungeduldig werden: diese Kette ist MI.
Dann geben wir Ihnen einige Regeln, mit denen Sie eine Kette in eine
andere verwandeln können. Wenn zu einem gewissen Zeitpunkt eine
dieser Regeln anwendbar ist und Sie sie verwenden möchten, können
Sie das tun - aber es gibt keine Vorschrift, welche Regel Sie verwenden
sollen, wenn mehrere anwendbar sind. Das können Sie entscheiden
- und das ist natürlich der Punkt, an dem das Spielen mit dem formalen
System so etwas wie eine Kunst werden kann. Die Hauptsache, die fast
nicht erwähnt zu werden braucht, ist, dass Sie nichts tun dürfen,
was die Regeln verletzt. Wir können diese Einschränkung die
"Formalitätsbedingung" nennen. In diesem Kapitel bedarf
das wahrscheinlich keiner Betonung. So seltsam es aber klingen mag -
ich sage Ihnen voraus, dass Sie, wenn Sie mit einigen formalen Systemen
in späteren Kapiteln spielen, feststellen werden, dass Sie die
Formalitätsbedingung immer und immer wieder verletzen werden, wenn
Sie nicht bereits früher mit formalen Systemen gearbeitet haben.
Bei unserem formalen System - dem MIU-System - ist als erstes zu sagen,
dass es nur drei Buchstaben des Alphabets verwendet, nämlich M,
I und U. Das bedeutet, dass die einzigen Ketten des MIU-Systems
diejenigen sind, die sich aus diesen drei Buchstaben zusammensetzen.
Nachstehend einige Ketten des MIU-Systems:
MU
UIM
MUUMUU
UIIUMIUUIMUIIUMIUUIMUIIU
* In
diesem Buch halten wir uns an folgende Konventionen, wenn wir von Zeichenketten
reden: wenn die Zeichenkette in der gleichen Schriftart ist wie der
Text, wird sie in einfachen oder doppelten Anführungszeichen eingeschlossen.
Interpunktionen, die zum Satz und nicht zur Kette gehören, stehen
logischerweise außerhalb der Anführungszeichen. Z.
B. ist der erste Buchstabe dieses Satzes "Z", während
der erste Buchstabe von "diesem Satz" "d" ist. Wenn
die Kette in der Schriftart Syntax gesetzt ist, lassen wir die
Anführungszeichen im allgemeinen weg, wenn sie nicht um der Klarheit
willen nötig sind. Der erste Buchstabe von Syntax ist
z. B. S.
Obgleich jedoch all das legitime Ketten sind, sind es nicht Ketten,
die Sie "besitzen". Die einzige Kette in Ihrem Besitz ist
vorderhand MI. Nur wenn Sie die Regeln anwenden, die wir gleich
ange-ben werden, können Sie Ihre private Sammlung erweitern.
Hier die erste Regel:
REGEL I: Wenn Sie eine Kette besitzen, deren letzter Buchstabe I
ist, können Sie am Schluss ein U zufügen.
Wenn Sie es übrigens noch nicht erraten haben sollten, eine der
Bedeutungen von
"Kette" ist die, dass die Buchstaben in einer feststehenden
Ordnung sind. Zum Beispiel sind MI und IM zwei verschiedene
Ketten. Eine Kette von Symbolen ist nicht einfach ein "Sack"
voller Symbole, bei dem die Ordnung keine Rolle spielt.
Hier die zweite Regel:
REGEL II: Angenommen Sie haben Mx Dann können Sie
Ihrer Sammlung Mxx zufügen.
Was ich damit meine, zeigen die folgenden Beispiele:
Aus MIU können Sie MIUIU erhalten.
Aus MUM können Sie MUMUM erhalten.
Aus MU können Sie MUU erhalten.
So steht also der Buchstabe "x" in der Regel für
irgendeine Kette; wenn Sie aber einmal entschieden haben, für welche,
müssen Sie bei Ihrer Entscheidung bleiben (bis Sie die Regel wieder
anwenden. An diesem Punkt können Sie eine neue Wahl treffen). Beachten
Sie das dritte Beispiel. Es zeigt, wie Sie, wenn Sie MU besitzen,
eine weitere Kette in Ihre Sammlung aufnehmen können - aber zuerst
müssen Sie MU haben! Zu dem Buchstaben "x"
noch ein letzter Kommentar: Er gehört dem formalen System nicht
in der gleichen Art und Weise an wie die drei Buchstaben "M",
"I" und "U". Indessen ist es nützlich,
eine Möglichkeit zu haben, allgemein, symbolisch über die
Ketten des Systems sprechen zu können, und das ist die Funktion
von "x": eine beliebige Kette zu repräsentieren.
Wenn Sie jemals eine Kette, die ein "x" enthält,
Ihrer "Sammlung" einverleiben, haben Sie etwas falsch gemacht,
denn Ketten des MIU-Systems enthalten niemals "x"!
Die dritte Regel:
REGEL III: Wenn in einer der Ketten Ihrer Sammlung III vorkommt,
können Sie eine neue Kette mit U anstelle von III
bilden.
Beispiele:
Aus UMIIIMU können Sie UMUMU machen.
Aus MIIII können Sie MIU (oder auch MUI) machen.
Bei IIMII kommen Sie mit dieser Regel nicht weiter.
(Die drei I müssen aufeinander folgen.)
Aus MIII ergibt sich MU.
Unter keinen Umständen dürfen Sie annehmen, dass Sie diese
Regel auch rückläufig verwenden können wie im folgenden
Beispiel:
Aus MU mache MIII. <= Das ist falsch.
Regeln sind Einbahnstraßen. Hier die letzte Regel:
REGEL IV: Wenn UU in einer Ihrer Ketten vorkommt,
kann man es streichen.
Aus UUU ergibt sich U.
Aus MUUUIII ergibt sich MUIII.
Das wär's. Nun können Sie beginnen, zu versuchen, MU
zu erzeugen. Es macht nichts, wenn es Ihnen nicht gelingt. Versuchen
Sie es ein bisschen - die Hauptsache ist, dass Sie auf den Geschmack
dieses MU-Rätsels kommen. Viel Vergnügen.
Sätze, Axiome, Regeln
Die Lösung des MU-Rätsels geben wir später in diesem
Buch. Wichtig ist im Augenblick nicht die Lösung, sondern die Suche
nach ihr. Sie haben wahrscheinlich ein paar Versuche gemacht, MU
zu erzeugen. Dabei haben Sie Ihre eigene Sammlung von Ketten aufgebaut.
Solche durch die Regeln herstellbare Ketten nennt man SÄTZE. Der
Ausdruck "Satz" hat natürlich im mathematischen Sprachgebrauch
eine Bedeutung, die ganz anders ist als die unsrige. Er bedeutet eine
Aussage in gewöhnlicher Sprache, die durch rigorose Beweisführung
als wahr erkannt worden ist, wie Zenos Satz [Vgl. Protokoll Seite 1]von
der "Unexistenz" der Bewegung oder Euklids Satz von der Unend-lichkeit
der Primzahlen. In einem formalen System aber braucht man SÄTZE
nicht als Aussagen zu betrachten - sie sind lediglich Symbolketten.
Und sie werden nicht bewiesen, sondern einfach wie
von einer Maschine nach gewissen typographischen Regeln erzeugt. Um
diese wichtige Unter-scheidung in der Bedeutung des Wortes "Satz"
zu betonen, gehe ich in diesem Buch wie folgt vor: wenn "Satz"
in normalen Buchstaben wiedergegeben wird, hat das Wort seine alltägliche
Bedeutung - ein Satz ist eine Aussage in der gewöhnlichen Sprache,
die jemand einmal durch logische Argumenta-tion als wahr bewiesen hat.
Wenn in Großbuchstaben, soll "SATZ" seine technische
Bedeutung ha-ben: eine in einem formalen System erzeugbare Kette. Das
MU-Puzzle stellt die Frage, ob MU ein SATZ des MIU-Systems ist.
Ich gab Ihnen einen SATZ zu Beginn vor, nämlich MI. Ein
solcher SATZ, den man "umsonst" erhält, heißt
Axiom - und wiederum ist die technische Bedeutung von der gängigen
völlig verschieden. Ein formales System kann kein, ein, mehrere,
ja sogar unendlich viele Axiome besitzen. Beispiele für alle diese
Typen werden wir in diesem Buch finden.
Jedes formale System hat Regeln für das Rangieren von Symbolen
wie etwa die vier Regeln des MIU-Systems. Diese Regeln nennt man entweder
Erzeugungs-Regeln oder Schluss-Regeln. Ich werde beide
Ausdrücke benützen.
Der letzte Begriff, den ich hier einführen will, ist der der Ableitung.
Ich gebe hier eine Ableitung des SATZES MUIIU:
1) MI ......... Axiom
2) MII ....... aus 1) durch Regel II
3) MIIII ..... aus 2) durch Regel II
4) MIIIIU ... aus 3) durch Regel I
5) MUIU ......aus 4) durch Regel III
6) MUIUUIU .aus 5) durch Regel II
7) MUIIU .... aus 6) durch Regel IV
Einen SATZ abzuleiten bedeutet, explizit
schrittweise zu zeigen, wie man den SATZ nach den Regeln des formalen
Systems erzeugen kann. Der Begriff der Ableitung ist dem des Beweises
nachgebildet, aber eine Ableitung ist eine strengere Verwandte des Beweises.
Es würde seltsam klingen, zu sagen, dass man MUIIU bewiesen
hat, aber es klingt weniger seltsam, zu sagen, dass man MUIIU
abgeleitet hat.
Innerhalb und außerhalb des
Systems
Die meisten Leute gehen das MU-Rätsel
an, indem sie eine Anzahl von SÄTZEN ableiten, ganz nach Belieben,
einfach um zu sehen, was dabei herauskommt. Sehr bald beginnen sie,
gewisse Eigen-schaften der von Ihnen gefundenen SÄTZE zu erkennen;
hier betritt die menschliche Intelligenz die Bildfläche. Zum Beispiel
lag es wohl nicht auf der Hand, dass alle SÄTZE mit M beginnen,
bis man einige ausprobiert hatte. Dann trat das Muster zutage, und man
konnte es nicht nur erkennen, sondern auch verstehen, wenn man einen
Blick auf die Regeln warf, die bewirken, dass jeder neue SATZ seinen
Anfangsbuchstaben von einem früheren SATZ erbt; schließlich
können dann die An-fangsbuchstaben aller Sätze bis zum ersten
Buchstaben des einzigen Axioms MI zurückverfolgt werden,
und das ist ein Beweis dafür, dass alle Sätze des
MIU-Systems mit M beginnen müssen.
Was hier geschieht ist höchst bedeutsam. Es zeigt einen Unterschied
zwischen Mensch und Maschine. Es wäre sicher möglich - es
wäre sogar sehr leicht - einen Computer so zu programmieren, dass
er einen SATZ des MIU-Systems nach dem ändern erzeugt, und wir
könnten ins Programm den Befehl einbauen, erst dann aufzuhören,
wenn U erzeugt worden ist. Jetzt wissen Sie, dass ein so programmierter
Computer nie anhalten würde. Und das erstaunt Sie weiter nicht.
Was aber, wenn Sie einen Freund bitten würden, zu versuchen, U
zu erzeugen? Sie wären nicht überrascht, wenn er nach einer
Weile zurückkäme und sich beklagte, dass er das M am
Anfang nicht loswerden könne und dass es deshalb vergebliche Mühe
sei. Auch wenn einer nicht besonders hell ist, wird er über das,
was er tut, gewisse Beobachtungen anstellen, und diese Beobachtungen
geben ihm einen guten Einblick in die Aufgabe - einen Einblick, der
dem Computer-Programm, wie wir es beschrieben haben, abgeht.
Nun will ich aber sehr genau ausführen, was ich andeutete, als
ich sagte, hier zeige sich ein Unter-schied zwischen Mensch und Maschine.
Ich meinte damit, dass es möglich ist, eine Maschine zur Lösung
einer Routine-Aufgabe so zu programmieren, dass die Maschine selbst
die offensichtlichsten Tatsachen über ihre Tätigkeit niemals
wahrnimmt; zum menschlichen Bewusstsein jedoch gehört es, gewisse
Tatsachen dessen, was man tut, wahrzunehmen. Aber das haben Sie schon
immer ge-wusst. Wenn Sie auf einer Additionsmaschine " 1"
tippen, dann 1 addieren und dann nochmals 1 addieren usw. usf. und das
Stunden und Stunden lang, wird die Maschine nie lernen, Ihnen zuvor-zukommen
und es selbst zu tun. Und doch würde jeder Mensch dieses Wiederholungsverhalten
sehr rasch aufgreifen. Oder, um ein etwas albernes Beispiel zu nehmen:
ein Auto wird, so viel und so gut es auch gefahren wurde, niemals auf
den Gedanken kommen, dass es andere Autos und Hindernisse auf der Straße
meiden sollte, und es wird auch niemals die von seinem Eigentümer
am häufigsten befahrene Route erlernen.
Der Unterschied ist somit, dass es für eine Maschine möglich
ist, unaufmerksam zu
sein; für einen Menschen ist es unmöglich. Man beachte, dass
ich nicht sage, alle
Maschinen seien notwendigerweise unfähig, differenzierte Beobachtungen
anzustellen: Ich sage nur, dass gewisse Maschinen es sind. Ich sage
auch nicht, dass alle
Menschen immer differenzierte Beobachtungen machen; Menschen sind in
Wirklichkeit oft sehr un-aufmerksam. Man kann aber Maschinen völlig
unaufmerksam machen, Menschen jedoch nicht. Tat-sächlich sind bis
heute die meisten bisher gebauten Maschinen fast gänzlich unaufmerksam.
Das ist wahrscheinlich der Grund, warum die Eigenschaft, unaufmerksam
zu sein, für die meisten Leute das Charakteristikum der Maschine
zu sein scheint. Wenn zum Beispiel jemand sagt, eine Aufgabe sei "mechanisch",
dann heißt das nicht, dass die Menschen unfähig sind, diese
Aufgabe zu lösen; es heißt jedoch, dass nur eine Maschine
es ohne Klage und ohne Langeweile immer und immer wieder tun könnte.
Aus dem System hinausspringen
Es ist eine der Intelligenz inhärente Eigenschaft,
dass sie aus einer Tätigkeit, der sie sich widmet, hinausspringen
und beurteilen kann, was sie getan hat - sie sucht immer und findet
oft Muster. Nun sagte ich zwar, dass eine Intelligenz aus ihrer Tätigkeit
hinausspringen kann, aber das bedeu-tet nicht, dass sie es immer tut.
Doch wird ein bisschen Nachhilfe oft genügen. Z. B. könnte
ein Mensch, der ein Buch liest, schläfrig werden. Anstatt weiterzulesen,
bis er mit dem Buch zu Ende ist, wird er es wahrscheinlich weglegen
und das Licht ausschalten. Er ist "aus dem System" he-rausgetreten,
und das scheint uns die natürlichste Sache der Welt zu sein. Oder
nehmen wir an, dass A Fernsehen schaut und B ins Zimmer kommt und Zeichen
offensichtlichen Unmuts über die Situation bekundet. A denkt vielleicht,
dass er das Problem verstehe, und versucht die Schwierig-keit zu beheben,
indem er das gegenwärtige System (das Fernsehprogramm) verlässt
und die Ka-näle durchprobiert, um ein besseres Programm zu erwischen.
B hat vielleicht eine radikalere Vor-stellung davon, was es bedeutet,
das "System zu verlassen" - nämlich den Fernseher abzuschalten.
Natürlich gibt es Fälle, in denen nur wenige Personen den
nötigen Überblick haben, um ein System zu erkennen, das das
Leben vieler Menschen beherrscht, ein System, das nie zuvor überhaupt
als System erkannt worden war; dann bringen diese Leute oft ihr ganzes
Leben damit zu, andere Leute davon zu überzeugen, dass das System
wirklich vorhanden ist und dass man es verlassen solle!
Wie gut hat man die Computer gelehrt, aus dem System
hinauszuspringen? Ich erwähne ein Beispiel, das manche Beobachter
überraschte. Vor kurzem hatte bei einem Computer-Schachturnier
in Kanada ein Programm - das schwächste von allen - die ungewöhnliche
Eigen-schaft aufzugeben, lange bevor die Partie zu Ende war. Es spielte
nicht sehr gut, aber es hatte wenigstens den Vorzug, dass es eine hoffnungslose
Stellung erkennen und sofort aufgeben konnte, anstatt zu warten, bis
die anderen Programme das langweilige Ritual der Mattsetzung hinter
sich gebracht hatten. Auch wenn es jede Partie, die es spielte, verlor,
tat es das stilvoll. Viele der anwesenden Schachexperten waren beeindruckt.
Wenn man also das "System" definiert als "in einer Schachpartie
Züge machen", ist es klar, dass dieses Programm eine raffinierte
vorprogrammierte Fähigkeit besaß, das System zu verlassen.
Wenn man anderseits das "System" als das auffasst, "was
der Computer zu tun programmiert wurde", dann besteht kein Zweifel,
dass der Computer überhaupt keinerlei Fähigkeit besaß,
das System zu verlassen.
Beim Studium formaler Systeme ist die Unterscheidung zwischen der Arbeit
innerhalb des Systems und den Aussagen und Beobachtungen über das
System äußerst wichtig. Ich nehme an, dass Sie mit dem MU-Puzzle
wie die meisten Leute begannen, indem Sie innerhalb des Systems arbeiteten,
dass Sie dann allmählich besorgt wurden, und diese Sorge steigerte
sich bis zu dem Punkt, wo Sie ohne die Notwendigkeit weiterer Überlegung
aus dem System heraustraten und versuchten, sich klar zu werden, warum
Ihnen nicht gelungen war, MU zu erzeugen. Vielleicht fanden Sie
einen Grund, warum Sie das nicht konnten; das hieße Nachdenken
über das System. Vielleicht erzeugten Sie irgendwann einmal MIU,
das hieße innerhalb des Systems arbeiten. Nun soll das aber nicht
bedeuten, dass diese beiden Betrachtungsweisen miteinander völlig
unverträglich sind; ich bin sicher, dass jeder Mensch bis zu einem
gewissen Grad fähig ist, inner-halb eines Systems zu arbeiten und
gleichzeitig über das nachzudenken, was er tut. In Angelegenheiten,
die den Menschen betreffen, ist es häufig so gut wie unmöglich,
die Dinge säuberlich in "innerhalb des Systems" und "außerhalb
des Systems" aufzuteilen; das Leben setzt sich aus so vielen ineinandergreifenden
und miteinander verwobenen und oft widerspruchsvollen Systemen zusam-men,
dass es allzu einfach scheinen mag, die Dinge unter diesem Aspekt zu
betrachten. Indes ist es oft wichtig, einfache Vorstellungen sehr klar
zu definieren, damit man sie beim Nachdenken über komplizierte
Vorstellungen als Modelle benutzen kann. Und das ist der Grund, warum
ich Ihnen formale Systeme vorführe; und es ist an der Zeit, dass
wir zu unserer Diskussion des MIU-Systems zurückkehren.
M-Modus, I-Modus, U-Modus
Das MU-Rätsel war so formuliert, dass
es zu einer Forschertätigkeit innerhalb des MIU-Systems Anstoß
gab. Es war aber auch so formuliert, dass es nicht zu der Ansicht verführen
sollte, das Verbleiben innerhalb des Systems bringe notwendigerweise
Früchte. Deshalb führte es zu einem gewissen Schwanken zwischen
den beiden Arbeitsweisen. Eine Methode zur Trennung dieser beiden Modi
wäre die, zwei Blätter zu nehmen. Auf dem einen arbeiten Sie
"in Ihrer Eigenschaft als Maschine", werden also das Blatt
mit nichts als M's, I's und U's füllen; auf
dem zweiten Blatt arbeiten Sie in Ihrer Eigenschaft als "denkendes
Wesen", und es steht Ihnen frei, zu tun was immer Ihre Intelligenz
vorschlägt - den Gebrauch der deutschen Sprache, das Skizzieren
von Ideen, das Ar-beiten von hinten nach vorn, dann den Gebrauch von
Kurzschrift (wie etwa des Buchstabens "x"), die Zusammenziehung
verschiedener Schritte zu einem einzigen, die Änderung der Systemregeln,
um zu sehen, was dabei herauskommt, oder was immer sonst Ihnen einfällt.
Etwas, was Ihnen vielleicht auffällt, ist dass die Zahlen 3 und
2 eine wichtige Rolle spielen, da die I's in Dreiergrup-pen ausgemerzt
werden, die U's in Paaren, und die Verdoppelung der Länge
(ausgenommen M) durch Regel II erlaubt wird. So könnte auch
das zweite Blatt ein paar Berechnungen enthalten. Wir werden gelegentlich
auf diese zwei Arten, sich mit dem formalen System auseinanderzusetzen,
zurückkommen, und wir nennen sie Mechanischen Modus (M-Modus)
und Intelligenz-Modus (I-Modus). Um unsere Modi zu vervollständigen,
so dass jeder einem Buchstaben des MIU-Systems entspricht, sei noch
der letzte genannt: der Un-Modus (U-Modus), die Art und Weise,
wie Zen sich mit den Dingen auseinandersetzt. Mehr darüber in späteren
Kapiteln.
Entscheidungsverfahren
Etwas, das sich an diesem Rätsel beobachten
lässt, ist, dass es Regeln mit zwei gegensätzlichen Tendenzen
verwendet, die Verlängerungsregeln und die Verkürzungsregeln.
Zwei Regeln (I und II) gestatten, die Kette zu verlängern (aber
natürlich nur auf die vorgeschriebene sehr starre Art und Weise);
und die zwei anderen, die Kette etwas schrumpfen zu lassen (wieder auf
sehr eingeschränkte Art). Für die Reihenfolge,
in der die Regeln angewendet werden können, gibt es anscheinend
endlose Möglichkeiten, und das nährt die Hoffnung, dass MU
irgendwie erzeugt werden könne. Vielleicht führt es dazu,
die Kette bis zu einer gigantischen Länge auszudehnen, und dann
ein Stück nach dem ändern herauszunehmen, bis nur noch zwei
Symbole übrigbleiben, oder, schlimmer noch, es könnte aufeinanderfolgende
Phasen von Ausdehnung und dann wieder Schrumpfung und dann wieder Ausdehnung
und Schrumpfung usw. mit sich bringen. Aber eine Garantie gibt es nicht.
Tatsächlich haben wir ja bereits festgestellt, dass U überhaupt
nicht herstellbar ist und es keinerlei Unterschied macht, wenn man bis
in alle Ewigkeit verlängert und verkürzt.
Doch scheinen der Fall U und der Fall MU ganz verschieden
zu sein. Denn wir erkennen die Un-möglichkeit, U herzustellen,
an einer sehr oberflächlichen Eigenschaft: Es beginnt nicht mit
M, und das müssen doch alle SÄTZE tun. Eine solch einfache
Methode, Nicht-SÄTZE zu entdecken, ist sehr bequem. Wer jedoch
sagt uns, dass dieser Test alle Nicht-SÄTZE aufdeckt? Es
muss doch eine große Anzahl von SÄTZEN geben, die mit M
beginnen, die aber nicht erzeugbar sind. Vielleicht ist MU einer
davon. Das würde bedeuten, dass der "Anfangsbuchstaben-Test"
von beschränkter Brauchbarkeit ist. Er deckt nur einen Teil der
Nicht-SÄTZE auf, erfasst andere aber nicht. Indessen verbleibt
die Möglichkeit eines noch komplizierteren Tests, der zwischen
den Ketten, die durch die Regeln hergestellt werden können, und
denen, die es nicht tun, genau unterscheidet. Hier sehen wir uns vor
der Frage: "Was meinen wir mit Test?" Es ist vielleicht nicht
klar, warum eine solche Frage in diesem Zusammenhang sinnvoll oder wichtig
ist. Ich will jedoch ein Beispiel eines "Tests" geben, das
dem Sinn des Wortes Gewalt anzutun scheint.
Stellen Sie sich einen Dämon vor, der unendlich
viel Zeit hat, und dem es Spaß macht, Sätze des MIU-Systems
zu produzieren, und das auf einigermaßen methodische Weise. Der
Dämon könnte zum Beispiel so vorgehen:
Schritt 1: Wende jede anwendbare Regel auf das Axiom MI an. Das
ergibt zwei neue SÄTZE: MIU, MII.
Schritt 2: Wende jede anwendbare Regel auf die in Schritt 1 erzeugten
SÄTZE an.
Das ergibt drei neue SÄTZE: MIIU, MIUIU, MIIII.
Schritt 3: Wende jede anwendbare Regel auf die in Schritt 2 erzeugten
SÄTZE an.
Das ergibt fünf neue SÄTZE: MIIIIU, MIIUIIU,
MIUIUIUIU, MIIIIIIII, MUI.
.
.
.
Früher oder später erzeugt dieses Vorgehen
jeden einzelnen SATZ, weil die Regeln in jeder mögli-chen Reihenfolge
angewendet wurden (siehe Abb. 11). Irgendwann einmal werden alle die
er-wähnten Verlängerungen und Verkürzungen ausgeführt
sein. Indessen ist nicht klar, wie lange man darauf warten muss, bis
eine bestimmte Kette in dieser
Abb. 11. Ein systematisch konstruierter "Baum" aller SÄTZE
des MW-Systems. Die N-te Stufe von oben enthält jene SÄTZE,
deren Ableitungen genau N Schritte umfassen. Die Ziffern in den Ringen
geben an, welche Regeln angewendet wurden. Ist MU irgendwo in
diesem Baum?
Liste erscheint, da die SÄTZE gemäß der Kürze ihrer
Ableitung aufgeführt werden. Wenn man an einer besonderen Kette,
wie z. B. MU interessiert ist, und nicht einmal weiß, ob sie überhaupt
abgeleitet werden kann, und noch viel weniger, wie lang diese Ableitung
sein könnte, ist das keine sehr brauchbare Anordnung.
Wir geben nunmehr den "SATZheit-Test":
Warten Sie, bis die fragliche Kette hergestellt ist; wenn das geschieht,
wissen Sie, dass sie ein SATZ ist - und wenn es nie geschieht, wissen
Sie, dass sie kein SATZ ist.
Auf den ersten Blick ist das lächerlich, denn es
setzt voraus, dass wir bereit sind, buchstäblich unendlich lange
auf unsere Antwort zu warten. Das bringt uns zum Kern der Frage, was
als "Test" gelten soll. Von entscheidender Wichtigkeit ist
eine Garantie, dass wir unsere Antwort in einem endlichen Zeitabschnitt
erhalten. Wenn es einen Test für SATZheit gibt, einen Test, der
immer in einer endlichen Zeitspanne ein Ende findet, dann nennt man
diesen Test ein Entscheidungs-verfahren für das vorliegende
formale System.
Wenn Sie über ein Entscheidungsverfahren verfügen, dann haben
Sie eine sehr konkrete Charakterisierung aller SÄTZE in dem System.
Auf den ersten Blick könnte man vielleicht meinen, dass die Regeln
und Axiome des formalen Systems eine nicht weniger vollständige
Cha-rakterisierung der SÄTZE des Systems liefern als ein Entscheidungsverfahren.
Das heikle Wort ist hier "Charakterisierung". Gewiss charakterisieren
die Schlussregeln und Axiome des MIU-Systems implizit diejenigen
Ketten, die SÄTZE sind. Sogar noch impliziter charakterisieren
sie die Ketten, die nicht SÄTZE sind. Aber implizite Charakterisierung
genügt für viele Zwecke nicht. Wenn jemand behauptet, dass
er eine Charakterisierung aller SÄTZE besitze, aber unendlich viel
Zeit zu dem Schluss braucht, dass eine gewisse Kette kein SATZ ist,
wäre man wohl geneigt zu sagen, dass et-was an dieser Charakterisierung
fehlt. Sie ist nicht konkret genug. Und aus diesem Grunde ist es ein
sehr wichtiger Schritt, herauszufinden, ob es ein Entscheidungsverfahren
gibt. Was diese Ent-deckung tatsächlich bedeutet, ist, dass man
einen Test darüber durchführen kann, ob eine Kette einen SATZ
darstellt und dass der Test, auch wenn er kompliziert ist, garantiert
ein Ende findet. Prinzipiell ist der Test genauso leicht, genauso
mechanisch, genauso finit, genauso sicher, wie die Prüfung, ob
der erste Buchstabe der Kette M ist. Ein Entscheidungsverfahren
ist ein "Lackmus-Test" für SÄTZE.
Übrigens ist es eine Bedingung für formale Systeme, dass das
Bündel von Axiomen durch ein Entscheidungsverfahren gekennzeichnet
ist - es muss einen Lackmus-Test für Axiomheit geben. Das gewährleistet,
dass man zumindest am Anfang ohne weiteres in Gang kommen kann. Das
ist der Unterschied zwischen der Menge der Axiome und der Menge der
SÄTZE; die erste hat immer ein Entscheidungsverfahren, die letzte
braucht keines zu haben.
Sie werden sicher zugeben, dass Sie sich beim ersten Blick auf das MIU-System
genau diesem Problem gegenübersahen. Das einzige Axiom war bekannt,
die Schluss-Regeln waren einfach, so waren die SÄTZE also implizit
charakterisiert - und doch war es noch immer ganz unklar, was die Konsequenzen
dieser Charakterisierung waren. Insbesondere war noch völlig unklar,
ob MU ein SATZ ist oder nicht.
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