PROTOKOLL Seite 4 zurueck
pg-System 
 
Auszüge aus
Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach : ein endlos geflochtenes Band,
11. Aufl. Stuttgart : Klett Cotta, 1988.
Seiten 50-52, 57 und 58
>
Bedeutung und Form der Mathematik


DIESER Zweistimmigen Invention verdanken meine beiden Protagonisten ihre Existenz. So wie Lewis Carroll sich mit Zenos Schildkröte und Achilles gewisse Freiheiten herausnahm, so habe ich mir mit Lewis Carrolls Schildkröte und Achilles gewisse Freiheiten erlaubt. In Carrolls Dialog finden die gleichen Ereignisse immer und immer wieder statt, nur jedes Mal auf einer höheren Ebene. Er bildet eine wunderbare Analogie zu Bachs Endlos Redupliziertem Kanon. Wenn man aus dem Dialog Carrolls den Witz herausnimmt, bleibt noch immer ein tiefes philosophisches Problem: Richten sich Wörter und Gedanken nach formalen Regeln oder nicht? Dies ist das zentrale Problem unseres Buches.

In diesem und im nächsten Kapitel werden wir verschiedene neue formale Systeme betrachten. Das wird uns einen viel weiteren Ausblick auf den Begriff des "formalen Systems" geben. Am Ende dieser beiden Kapitel sollten Sie eine gute Vorstellung von der Leistungsfähigkeit formaler Systeme haben, und auch davon, warum sie für Mathematiker und Logiker von Interesse sind.

Das pg-System

Das in diesem Kapitel behandelte System heißt pg-System. Es ist für Mathematiker und Logiker nicht wichtig - es handelt sich bloß um eine einfache, von mir selbst erfundene Sache. Wichtig ist es, weil es ein vortreffliches Beispiel für viele Gedanken bietet, die in diesem Buch eine wichtige Rolle spielen. Im pg-System gibt es drei verschiedene Symbole:

P g -
- die Buchstaben p und g und den Bindestrich.


Das pg-System hat eine unendliche Anzahl von Axiomen. Da wir sie nicht alle niederschreiben können, müssen wir eine andere Methode haben, um sie zu beschreiben. Tatsächlich wollen wir ja mehr als einfach eine Beschreibung der Axiome; wir wollen eine Methode, die uns erlaubt, festzustellen, ob eine bestimmte Kette ein Axiom ist oder nicht. Eine bloße Beschreibung der Axiome könnte sie vielleicht vollständig, aber eben doch nur schwach charakterisieren - das war ja das Problem bei der Charakterisierung der Sätze im MIU-System. Wir wollen uns nicht eine unbestimmte, möglicherweise unendlich lange Zeitspanne damit abquälen, herauszufinden, ob eine gewisse Kette ein Axiom ist oder nicht. Deshalb werden wir die Axiome so definieren, dass ein offensichtliches Entscheidungsverfahren dafür existiert, ob eine aus p's, g's und Bindestrichen bestehende Kette ein Axiom ist.

DEFINITION: xp-gx- ist ein Axiom, wenn x nur aus Bindestrichen besteht.

Beachten Sie, daß "x" beide Male für die gleiche Kette von Bindestrichen stehen muß. Z. B. ist --p-g--- ein Axiom. Der Ausdruck "xp-gx-" ist natürlich kein Axiom (weil "x" nicht zum pg-System gehört); es ist eher eine Form, in die alle Axiome gegossen werden, und heißt Axiomen-Schema.

Das pg-System besitzt nur eine einzige Erzeugungsregel:

REGEL: Angenommen x, y und z stehen alle für einzelne Ketten, die nur Bindestriche enthalten, und angenommen, daß man weiß, daß xpygz ein SATZ ist. Dann ist xpy-gz- ein Satz.

Nehmen wir z. B. x als "--", y als "---", und z als "-". Die Regel sagt uns: Wenn --p---g- sich als SATZ erweist, dann auch -p----g--.

Wie das für die Erzeugungsregeln typisch ist, bedeutet diese Aussage eine Kausalverknüpfung zwischen zwei Ketten in ihrer Eigenschaft als SÄTZE, ohne aber zu behaupten, daß jede einzelne von ihnen allein ein SATZ sei.

Eine äußerst nützliche Übung ist die, ein Entscheidungsverfahren für die SÄTZE des pg-Systems zu finden. Schwierig ist das nicht, wenn Sie eine Zeitlang damit gespielt haben, kommen sie wahrscheinlich darauf. Versuchen Sie es.

Das Entscheidungsverfahren

Ich nehme an, Sie haben's versucht. Zunächst möchte ich, auch wenn es zu offensichtlich scheint, als daß man es erwähnen müßte, darauf hinweisen, daß jeder SATZ des pg-Systems drei verschiedene Gruppen von Bindestrichen enthält und daß die trennenden Elemente ein p und ein g - in dieser Reihenfolge - sind. (Man kann das mit einem auf "Vererblichkeit" beruhenden Beweisgang zeigen, genauso wie wir zeigen konnten, daß alle SÄTZE des MIU-Systems mit M beginnen müssen.) Das bedeutet, daß wir rein aus formalen Gründen eine Kette wie --p--p--p--g-------- ausschalten können.

Nun mag es albern erscheinen, den Ausdruck "rein aus formalen Gründen" zu betonen. Was besitzt eine Kette anderes als ihre Form? Was könnte sonst noch bei der Bestimmung ihrer Eigenschaften eine Rolle spielen? Offensichtlich nichts. Denken Sie aber während der Diskussion formaler Systeme daran: der Begriff der "Form" wird immer komplizierter und abstrakter werden, und wir werden über die Bedeutung des Wortes "Form" noch mehr nachdenken müssen. Nennen wir also jede Kette, die mit einer Gruppe von Bindestrichen beginnt, auf die dann ein p, eine zweite Bindestrichgruppe sowie ein g folgt und die mit einer letzten Bindestrichgruppe aufhört, eine wohlgeformte Kette.

Zurück zum Entscheidungsverfahren ... Das Kriterium dafür, daß ein SATZ vorliegt, ist, daß sich die Bindestrichlängen der ersten beiden Gruppen zu der der dritten addieren. Z. B. ist --p--g---- ein SATZ, da 2 plus 2 4 gibt, während --p--g- keiner ist, da 2 plus 2 ungleich 1 ist. Um zu erkennen, daß das wirklich ein Kriterium ist, betrachten wir zuerst das Axiomen-Schema. Offensichtlich erzeugt es nur Axiome, die diesem Kriterium der Addition genügen. Man betrachte sodann die Erzeugungsregel: Wenn die erste Kette dem Additionskriterium genügt, dann muß es auch die zweite tun - und umgekehrt, wenn die erste Kette ihm nicht genügt, tut es auch die zweite nicht. Die Regel macht das Additionskriterium zu einer vererbbaren Eigenschaft der SÄTZE: Jeder SATZ gibt die Eigenschaft an seinen Nachfolger weiter. Das zeigt, warum das Additionskriterium korrekt ist.

Es gibt übrigens eine Tatsache im pg-System, die uns ermöglicht, mit Zuversicht zu sagen, daß es ein Entscheidungsverfahren besitzt, sogar noch bevor man das Additionskriterium findet. Diese Tatsache ist die, daß das pg-System nicht durch die einander widerstrebenden Strömungen der Verlängerungs- und Verkürzungs-Regeln kompliziert wird; es besitzt nur Verlängerungs-Regeln. Jedes formale System, das uns sagt, wie man längere aus kürzeren SÄTZEN machen kann, niemals aber das Gegenteil, muß für seine SÄTZE ein Entscheidungsverfahren besitzen. Nehmen wir an, man lege uns eine Kette vor. Prüfen wir zuerst, ob es sich um ein Axiom handelt oder nicht. (Ich nehme an, daß es ein Entscheidungsverfahren dafür gibt, ob es sich um Axiome handelt; sonst ist alles hoffnungslos.) Wenn es sich um ein Axiom handelt, dann ist es definitionsgemäß ein SATZ, und der Test ist zu Ende. Nehmen wir aber an, es handle sich nicht um ein Axiom. Um ein SATZ zu sein, muß es gemäß einer der Regeln von einer kürzeren Kette abstammen. Indem wir nacheinander die verschiedenen Regeln prüfen, können wir nicht nur die Regeln identifizieren, die möglicherweise diese Kette hervorbringen konnten, sondern auch feststellen, welche kürzeren Ketten ihre Vorläufer im "Stammbaum" sein könnten. Auf diese Weise "reduziert" man das Problem auf die Feststellung, ob eine von irgendwelchen neuen, aber kürzeren Ketten einen SATZ darstellt. Jede von ihnen kann ihrerseits demselben Test unterworfen werden. Das schlimmste, was geschehen kann, ist eine Flut von immer mehr, aber immer kürzeren Ketten, die getestet werden müssen. Während wir auf diese Weise unseren Weg langsam nach rückwärts gehen, müssen wir der Quelle aller SÄTZE - den Axiomenschemata - näherkommen. Aber die Ketten können nicht ad infinitum kürzer und kürzer werden; deshalb werden wir schließlich finden, daß eine unserer kurzen Ketten ein Axiom ist, oder wir kommen zu einem Punkt, an dem es nicht mehr weiter geht, weil keine unserer kurzen Ketten ein Axiom ist, und keine noch weiter verkürzt werden kann, wenn man die eine oder andere Regel rückläufig anwendet. Das zeigt, daß formale Systeme, die lediglich Verlängerungs-Regeln enthalten, nicht übermäßig interessant sind; erst das Zusammenspiel von Verlängerungs- und Verkürzungs-Regeln verleiht formalen Systemen eine gewisse Faszination.

...

Doppelbedeutung!


Und jetzt will ich jegliche Illusion zerstören, daß wir die Bedeutungen für die Symbolik des pg-Systems gefunden haben. Betrachten wir die folgende Zuordnung:

p <==> gleich
g <==> weggenommen von
- <==> eins
-- <==> zwei
usw.


Nun hat --p---g----- eine neue Interpretation: "2 ist gleich 3 weggenommen von 5". Selbstverständlich eine wahre Aussage. Alle SÄTZE sind bei dieser neuen Interpretation wahr. Sie ist genauso bedeutungstragend wie die alte. Offensichtlich ist die Frage: "Aber was ist die Bedeutung der Kette?" nicht sehr sinnvoll. Eine Interpretation ist bedeutungstragend in dem Grade, in dem sie eine Isomorphie mit der wirklichen Welt präzis widerspiegelt. Sind verschiedene Aspekte der wirklichen Welt isomorph (in diesem Fall Addition und Subtraktion), kann ein einziges formales System zu beiden isomorph sein und somit zwei passive Bedeutungen haben. Diese Art Doppelwertigkeit von Symbolen und Ketten ist ein äußerst wichtiges Phänomen. An dieser Stelle scheint sie trivial, kurios und ärgerlich, sie wird aber in tieferliegenden Zusammenhängen wieder auftreten und eine große Fülle von Ideen mit sich bringen.

Hier eine Zusammenfassung unserer Beobachtungen am pg-System. Bei jeder der beiden bedeutungstragenden Interpretationen, die wir gegeben haben, hat jede wohlgeformte Kette als Entsprechung eine grammatikalische Behauptung - einige dieser Behauptungen sind wahr, andere falsch. Der Begriff der wohlgeformten Kette in einem formalen System besagt, daß es sich um diejenigen Ketten handelt, die, wenn wir ein Symbol nach dem ändern interpretieren, grammatikalisch richtige Ausdrücke ergeben. (Das hängt natürlich von der Interpretation ab, aber im allgemeinen schwebt einem eine gewisse Interpretation vor.) Unter den wohlgeformten Ketten gibt es solche, die SÄTZE sind. Diese sind durch ein Axiomenschema und eine Erzeugungsregel definiert. Mit der Erfindung des pg-Systems bezweckte ich, die Addition zu imitieren: Ich wollte, daß jeder SATZ, wenn interpretiert, eine richtige Addition ausdrücken würde; umgekehrt wollte ich, daß jede richtige Addition von genau zwei positiven ganzen Zahlen sich in eine Kette übersetzen lasse, die dann ein SATZ wäre. Dieses Ziel wurde erreicht. Man beachte also, daß alle unrichtigen Additionen, z. B. "2 plus 3 gleich 6" auf Ketten abgebildet werden, die wohlgeformt, aber keine SÄTZE sind.

Formale Systeme und Wirklichkeit

Dies ist unser erstes Beispiel des Falles, daß ein formales System auf einem Teil der Wirklichkeit beruht und sie perfekt nachzuahmen scheint, da die SÄTZE den Wahrheiten über diesen Ausschnitt aus der Wirklichkeit isomorph sind. Doch sind Wirklichkeit und formales System voneinander unabhängig. Niemand braucht sich bewußt zu sein, daß zwischen beiden eine Isomorphie besteht. Beide stehen für sich - eins plus eins gleich zwei, gleichgültig ob wir wissen, daß -p-g-- ein SATZ ist; und -p-g-- ist immer noch ein SATZ, ob wir es mit Addition in Zusammenhang bringen oder nicht.

Man fragt sich vielleicht, ob die Erzeugung dieses oder eines anderen formalen Systems neues Licht auf die Wahrheiten in ihrem Interpretationsbereich wirft. Hat die Erzeugung von pg-SÄTZEN uns irgendwelche neuen Additionen gelehrt? Sicher nicht. Aber wir haben etwas über das Wesen der Addition als eines Prozesses gelernt, nämlich daß sie ohne Schwierigkeit durch eine typographische Regel über bedeutungsleere Symbole nachgeäfft werden kann. Das sollte keine besondere Überraschung sein, da "Addition" ja ein so einfacher Begriff ist. Jedermann weiß, daß man die Addition mit den sich drehenden Rädern einer Vorrichtung wie etwa einer Ladenkasse einfangen kann.

Es ist jedoch klar, daß wir, was formale Systeme anbelangt, noch kaum die Oberfläche geritzt haben. Es ist natürlich, sich zu fragen, welcher Teil der Wirklichkeit sich durch eine Anzahl bedeutungsleerer Symbole, die formalen Regeln gehorchen, nachahmen läßt. Läßt sich die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit in ein formales System verwandeln? In einem sehr allgemeinen Sinn könnte die Antwort anscheinend "ja" lauten. Man könnte z. B. annehmen, daß die Wirklichkeit selber nichts anderes sei, als ein einziges sehr kompliziertes formales System. Seine Symbole bewegen sich nicht auf dem Papier, sondern vielmehr in einem dreidimensionalen Vakuum (Raum); sie sind die Elementarteilchen, aus denen sich alles zusammensetzt. (Stillschweigende Annahme: daß die absteigende Kette von der Materie einmal ein Ende nimmt, so daß der Ausdruck "Elementarteilchen" einen Sinn hat.) Die "typographischen Regeln" sind die physikalischen Gesetze, die angeben, wie, wenn Position und Geschwindigkeit aller Teilchen in einem bestimmten Augenblick gegeben sind, diese modifiziert werden können, so daß sich neue Positionen und Geschwindigkeiten ergeben, die zum "nächsten" Augenblick gehören. So sind also die SÄTZE dieses großen formalen Systems die möglichen Konfigurationen von Teilchen zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte des Universums. Das einzige Axiom ist (oder vielleicht war) die ursprüngliche Konfiguration aller Teilchen "zu Beginn der Zeit". Das ist indessen eine so überwältigende Vorstellung, daß sie nur von ganz theoretischem Interesse ist; überdies
läßt die Quantenmechanik (und lassen andere Bereiche der Physik) selbst den theoretischen Wert dieser Vorstellung etwas zweifelhaft erscheinen. Im Grunde fragen wir, ob das Universum deterministisch angelegt ist - diese Frage bleibt offen.

PROTOKOLL Seite 4 <<<<<<<<<<<<<<<<<<>>>>>>>>>>>>>>>>>> MIU-System
nach oben