Stielow: Assoziatives Schreiben vor Kiefer

Du meine Güte, wie oft bin ich schon vor "20 Jahre Einsamkeit" gestanden. 10, 20, 30 Mal, allein, mit Studenten, mit Kollegen.
William Faulkner, der amerikanische Literatur-Nobelpreisträger, schrieb ein- mal: "Nicht indem ich 1000 Kathedralen 1 Mal besucht habe, habe ich von Kathedralen etwas erfahren und verstanden, sondern indem ich 1 Kathedrale 1000 Mal besucht habe." Also ich werde noch 970 Mal vor "20 Jahre Einsamkeit" stehen müssen, um etwas davon wirklich verstanden und erfahren zu haben.
Nun denn, das sind Aussichten, ungewohnte, in dieser hektischen Zapping- Zeit, die auch in mir ihre Spuren hinterlässt. Die Zeit drückt, auch ich will schnelle Ergebnisse.
Gleichwohl, ich bin fasziniert von diesem Werk und vielleicht bringe ich es doch auf 100 Begegnungen.
Vor diesem Bilderstapel denke ich an die Wände meiner Bibliothek, die vielen Bücher, die ich einmal gelesen habe und deren Sinngehalt, deren Inhalt, ich lange schon vergessen habe ... denke ich an Fernsehsendungen und Zeitungslektüre. An Gespräche. Flüchtigkeit und Intensität, über Reiz und Nachwirkung. Wirklich, das sind Probleme.

Ein Buch immer wieder lesen, einen Film immer wieder sehen, ein Musik- stück immer wieder hören, und wenige Kunstwerke immer wieder anschauen. Warum geschieht das so selten?
Jetzt, heute, hier sitze ich allein im Raum, es ist der 14. August 01, gegen 13 Uhr. Seitwärts durch die Tür dringen die Geräusche des Aufbaus der nächsten Ausstellung.
Ich sehe den Stapel, die Schichtung der Bilder, die Sonnenblumen. Irgendwie ein Ganzes, doch keins, ein vorläufiges Ganzes, ein zufälliges.
Meine Aufmerksamkeit schweift, bleibt kurz hier und dort haften. Und schließlich am vertrockneten braunblättrigen Mistelzweig, der auf der Rückseite eines Bildes liegt, in Höhe der Hälfte des Stapels. Ich sehe mir den Zweig genauer an, entdecke eine dünne verrostete Drahtschlinge. Der Mistelzweig hing also einst zur Weihnachtszeit in einem Türrahmen und Liebende küssten sich unter ihm in der Hoffnung auf eine lange Liebe.
Nun ist der Zweig verdorrt.